Zwei Brahms-Rätsel

Österreichische Musikzeitschrift, 1972 


I. „Von ewiger Liebe“, op 43/1

II. „Unüberwindlich", op 72/3

Wer schrieb die Worte zum erstgenannten Lied? Warum ist Scarlatti in dem zweiten zitiert? Die erste Frage scheint leicht zu beantworten - Josef Wenzig (1807-1876); man liest es in allen Nachschlagewerken. Er war Deutscher und lebte in Prag. Unter seinen Schriften (darunter zahlreiche Übersetzungen) befinden sich die Libretti zu Smetanas Opern „Dalibor" und „Libussa". Brahms nahm aus zwei Bänden von Wenzigs Übersetzungen die Texte für sieben Solo-Lieder, zwei Duette und einen Chor a cappella. Es ist aber bemerkenswert, daß keines dieser Bücher den Text zu „Von ewiger Liebe" enthält. Max Friedländer gibt sich in seinem Buch über Brahms' Lieder scheinbar damit zufrieden und läßt dieses Problem auf sich beruhen. Wo aber fand der Komponist das Gedicht? In einem anderen Buch von Wenzig? In einem Journal oder Magazin? Oder wurde es ihm persönlich übergeben? Brahms wurde mit Gedichten seiner Freunde förmlich bombardiert. Das geschah aber in späteren Jahren, als er schon ein berühmter Liederkomponist war. Er machte indessen kaum von literarischen Zeitschriften Gebrauch, wenn er Liedertexte suchte; und es ist nicht festzustellen, ob er je mit Wenzig in irgendeiner Verbindung stand.

    Die erste Auflage des Brahms-Liedes bietet uns aber zwei Hinweise. Der Name des Dichters ist nämlich als Wentzig (sic!) angegeben, und die Originalsprache als „Wendisch“ (= slowenisch) bezeichnet. Fast alle anderen Übersetzungen des angeblichen Verfassers sind aus dem Tschechischen oder Slowakischen - wie man es ja von einem Prager erwartet. Wenzigs Übersetzungen aus dem Wendischen sind unerheblich, die Originalsprache wird als „Windisch“ bezeichnet. War es vielleicht möglich, so überlegt man, daß Brahms die Bezeichnung der Sprache und den Namen des Übersetzers verwechselte, daß daher die Zuschreibung als unzuverlässig zu betrachten ist? Offenbar interessierte er sich nicht sehr für Namen und Daten. Ferner bar das Gedicht keine Ähnlichkeit mit Wenzigs Stil, ja es mangelt ihm überhaupt an volkstümlichem Charakter. Es ist weniger die peinlich-genaue Arbeit eines nicht sehr begabten Übersetzers als vielmehr das nachlässig geschriebene Werk eines talentierten Dichters. Welcher Dichter also wohnte im Land der Wenden? Wer war fähig, sowohl deutsche Dialekte wie slawische Sprachen zu übersetzen, wer konnte ferner Volkslieder zu Kunstliedern umformen? Und wo hätte Brahms ihn finden können? An seinem bevorzugten Ort wahrscheinlich - nämlich unter Schumanns Vorlagen. Es gab nur einen solchen Dich­ter, der von Schumann vertont wurde - Heinrich Hoffmann von Fallersleben. 

 

    Und tatsächlich findet man in seinen 1837 in Breslau herausgegebenen Gedichten auf Seite 117 [recte 119, siehe oben ED] den Text des Gedichtes „Von ewiger Liebe“, unter Nr. 3 der sogenannten „Wendischen Lieder“. Vielleicht könnte Brahms' Irrtum als eine Freudsche Fehlleistung bezeichnet werden: wollte er vergessen, daß er Schumanns Dichtungen benutzte, um seine eigene Liebe zu Clara Schumann zu erklären? Kein Wunder, daß das Gedicht Aufsehen erregte.

Leidest du Schmach und betrübest du dich,

Leidest du Schmach von andern um mich,

Werde die Liebe getrennt ...

 

    Sind das prophetische Worte, waren sie an Clara Schumann gerichtet?

 

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In „Unüberwindlich“ wird ebenfalls von ewiger Liebe gesprochen, wenn auch in ver­schiedenem Sinne. Dieses heitere Gedicht von Goethe vergleicht den Wein mit der Frau - beides berauschend und beides unwiderstehlich. Das Vorspiel fängt so an:

 

    Was aber bringt den Namen Scarlatti in Beziehung mit Wein und Frauen? Vermutet man nicht auch hier eine Anspielung à la Schumann? Dieser beschäftigte sich einmal mit der Rezension der „Sämtlichen Werke für Pianoforte von Domenico Scarlatti", in der „Neuen Zeitschrift für Musik" (unter den 200 Stücken ist Nr. 133 die Quelle für das Brahms-Zitat). Von der dargebotenen Fülle meinte Schumann, daß „man nicht zuviel hintereinander spielen“ sollte. „Sparsam aber und zur rechten Zeit hervor­geholt", werden sie eine „frische Wirkung" haben. Eine treffende Parallele! Wir wissen auch, daß in Brahms diese Idee lebendig blieb: als er später einen Band von Scarlatti­ Stücken seinem Freund Billroth sandte, fügte er die Bemerkung hinzu: „Von denen hättest Du gewiß Vergnügen - wenn Du sie nicht gleich zu massenhaft vornimmst, sondern in mäßigen Portionen."

 

 

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Es zeigt sich also, daß diese beiden kleinen Brahms-Probleme dadurch einer Lösung zugeführt werden konnten, daß man sie im Lichte der Beziehungen zu Schumann betrachtete. Könnte dieser Weg nicht auch bei wichtigeren musikalischen Fragen zum Erfolg führen?